L. M. SCHLÜTER
Autorin

Jesus und die Samariterin
Aus: Johannes 4, Vers 1-31
Kaum hatte die junge Frau die Grenze Samariens überschritten, brach die seichte Wolkendecke über ihrem Kopf und offenbarte eine unbarmherzig glühende Sonne.
Seufzend blieb Raba stehen, schaute zum glimmenden Licht empor, das jegliches Wasser aus ihrem Körper zu saugen schien. Sollte sie umkehren?
Sie könnte heute Abend, kurz vor Sonnenuntergang, zum Brunnen gehen und dann das Wasser für ihre Familie holen. Aber alle anderen aus dem Dorf würden die gleiche Idee haben wie sie. Die verurteilenden Blicke, die bösen Worte, sie könnte es vielleicht noch verkraften. Aber konnte sie ihre Kinder den ganzen Tag dürsten lassen, nur weil sie sich wegen der Sonne zu sehr fürchtete?
Nein, das war keine Option.
Entschlossen verschleierte sich Raba, um die brennende Hitze zumindest ein wenig zu lindern und machte sich auf den langen Marsch gen Brunnen.
Als sie endlich an der ersehnten Quelle ankam, fühlte sie sich zittrig. Ihre Zunge war trocken, der Geschmack in ihrem Mund bitter. Die zarten Finger, gezeichnet von Schürfen und Verletzungen der täglichen Last, schlossen sich fest um das Stroh des Eimers.
Erst spät bemerkte sie den Mann, der nahe dem Brunnen lehnte. Er sah aus wie ein Jude, ein Jude, der sie womöglich verurteilen würde, für alles, was sie war. Eine Sünderin, eine Ehebrecherin, eine Samariterin und Frau obendrein.
Sie machte Anstalten, kehrt zu machen, doch irgendetwas ließ sie innehalten. Neugierig musterte sie den Mann, der aussah, wie viele andere Männer auch. Dennoch war etwas anders an Ihm. Sie konnte es nicht greifen. Es war ein Gefühl, tief in ihrem Inneren, das ihr sagte, dass sie nichts zu befürchten hätte. Im Gegenteil. Er hatte eine Ausstrahlung, die sie noch nie gesehen hatte. Nein, gespürt. Dieser Mann, Er schien eine Wärme auszustrahlen, eine Güte und Freundlichkeit, die ihre Schritte fast automatisch dichter zu Ihm lenkte. Erst langsam und zögerlich, dann immer schneller.
Als sie nur noch wenige Meter trennten, wendete Er sich ihr zu. Er wirkte nicht überrascht. Auf Seinen Lippen lag vielmehr ein herzliches Lächeln, als habe Er auf sie gewartet. »Gib mir etwas zu trinken.«
Die bloße Frage ging Raba durch Mark und Bein. Er, ein Jude, sprach mit ihr? Er sprach mit ihr, als wäre es nicht die größte Schande in seinen Kreisen. »Du bist ein Jude, und ich bin eine Samariterin. Wie kannst du mich um etwas zu trinken bitten?«
Wieder dieses Lächeln. Noch viel tiefer und friedvoller als zu Beginn des Gespräches. Er schien keineswegs verwundert über ihre Reaktion. Doch verurteilen tat Er sie auch nicht. »Wenn du wüsstest, was für ein Geschenk Gott den Menschen macht und wer dich hier bittet: ›Gib mir etwas zu trinken‹! – dann würdest du ihn bitten, und er würde dir lebendiges Wasser geben!«
Verwirrt blickte Raba zwischen ihrem Eimer und dem Brunnen hin und her, nicht verstehend, was der Mann ihr sagen wollte. Lebendiges Wasser, was sollte das sein? Und warum bat Er ihr plötzlich Wasser an, wo Er doch kurz davor selbst darum gebeten hatte? »Herr, du hast nichts, um Wasser zu schöpfen, und der Brunnen ist tief. Woher hast du denn dieses lebendige Wasser?« Ihre nächsten Worte waren anmaßend, war der Mann doch so ungewöhnlich nett zu ihr. Doch die Verwunderung über den Verlauf des Gespräches trieb Raba schneller zu reden, als zu denken. Irgendetwas sagte ihr, dass es um mehr ging, als es den Anschein hatte. »Bist du etwa mehr als unser Stammvater Jakob? Er hat uns diesen Brunnen hinterlassen. Er selbst hat daraus getrunken, ebenso seine Söhne und sein Vieh.«
Darauf stand der Mann auf und kam einen Schritt näher. Er blickte auf sie herab, wie ein Vater auf sein Kind, ohne dass es auch nur die Spur von Hochmut hatte. Vielmehr strahlte Er eine Sicherheit aus, als Er die Hand auf ihre Schulter legte. »Wer von diesem Wasser hier trinkt, wird wieder Durst bekommen. Aber wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, wird nie wieder Durst haben. Denn das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden: Ihr Wasser fließt und fließt – bis ins ewige Leben.«
Raba hörte, was Er sagte, doch verstehen tat sie nicht. Sie wusste nur, dass das, was der Mann anpries, etwas war, das weit über Wasser hinausging. »Herr, gib mir dieses Wasser! Dann habe ich nie mehr Durst und muss nicht mehr herkommen, um Wasser zu schöpfen.«
Plötzlich sagte der Mann: »Geh, ruf deinen Mann und bring ihn her!«
Sie stutzte. Sie hatte damit gerechnet, dass der Fremde mehr über sie wüsste und auch die Tatsache, dass sie keinen Ehemann hatte. Keine Ahnung, wieso. Doch nach all seinen Worten schien es ihr logisch, dass Er ein Prophet sein musste. Und wussten Propheten nicht nahezu alles über die Menschen und ihre Geschichte? »Ich habe keinen Mann.«
Der Fremde musterte sie eindringlich. Einige Sekunden verstrichen, ehe Er wissend nickte. »Es stimmt, wenn du sagst: ›Ich habe keinen Mann.‹ Denn fünfmal warst du verheiratet, und der, mit dem du jetzt zusammen bist, ist nicht dein Mann. Da hast du die Wahrheit gesagt.«
Raba widerstand dem ersten Impuls, zurückzuweichen und sich der Berührung an der Schulter zu entziehen. Denn im Gegensatz zu vielen Propheten waren die Worte des Fremden nicht anklagend. Lediglich schien Er alles zu wissen und alles zu verstehen. Selbst die dunklen Seiten ihres Lebens konnte Er aussprechen, ohne auch nur ein rügendes Wort. »Herr, ich sehe: Du bist ein Prophet!«, sagte Raba euphorisch. Denn einen Propheten wie Ihn hatte sie noch nie getroffen. Niemand war vergleichbar mit dem, was dieser Mann ausstrahlte. Man spürte regelrecht Seine Verbindung zum Herrn. »Unsere Vorfahren haben Gott auf dem Berg dort verehrt. Aber ihr behauptet, dass sich in Jerusalem der richtige Ort befindet, um Gott zu verehren!«
»Glaub mir, Frau: Es kommt die Stunde, in der ihr den Vater weder auf diesem Berg noch in Jerusalem verehren werdet. Ihr Samariter betet Gott an und kennt ihn nicht. Wir beten Gott an und kennen ihn. Denn die Rettung für alle Menschen kommt von dem jüdischen Volk. Aber es kommt die Stunde, ja, sie ist schon da! Dann werden die Menschen, die Gott wirklich verehren, den Vater anbeten. Dabei werden sie von Gottes Geist und von Gottes Wahrheit erfüllt sein. Denn der Vater sucht Menschen, die ihn so anbeten. Gott selbst ist Geist – und wer ihn anbetet, muss vom Geist und von der Wahrheit erfüllt sein.«
Kurz war Raba verunsichert. Verhielt sie sich falsch, in ihrem Glaubensleben? War es das, was der Fremde ihr zu sagen versuchte? Doch da fiel ihr etwas ein, über das immer mehr Menschen zu sprechen begannen. »Ich weiß, dass der Messias kommt. Man nennt ihn auch Christus – den Gesalbten. Wenn der kommt, wird er uns über all das Auskunft geben.«
Der Mann lächelte erfreut bei ihren Worten, als habe Er genau auf sie gewartet. »Ich bin es. Ich, der mit dir spricht.«
Raba starrte den Mann an. Sie wollte etwas sagen, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Sie stand einfach nur da und wusste nicht, was sie tun sollte. Es war nicht so, dass sie zweifelte. Nein, im Gegenteil. Dieser Mann hatte gerade das ausgesprochen, was sie von der ersten Sekunde, in der sie Ihn gesehen hatte, gespürt hatte. Und doch war es erst nach Seinen Worten eindeutig, als würden ihr die Augen geöffnet. Sie ließ den Wasserkrug auf die Erde sinken und wendete sich ab, ohne eines weiteren Grußes. Ihre Füße flogen über den Sand, dessen Staubwolken sie bald ganz und gar einhüllten. Plötzlich spürte sie die Mittagshitze nicht mehr. Auch nicht den Durst oder die Müdigkeit. Eine neue Energie hatte ihr Inneres erfüllt. Und diese Energie ließ sie rennen, wie sie noch nie in ihrem Leben gerannt war.
Zurück im Ort verkündete sie mit Freude: »Kommt und schaut euch das an! Da ist ein Mensch, der hat mir alles gesagt, was ich getan habe. Ist er vielleicht der Christus?«
Es war eine Frage, doch sie wusste ganz genau, wer der Mann war. Ja, Er war der Christus. Und auch die Leute schienen zu spüren, welche Erkenntnis sie getroffen hatte.
In Scharen folgten sie ihr zum Jakobsbrunnen. Nachdem sie die Worte des Mannes gehört hatten, sagten sie: »Wir glauben nicht wegen deiner Erzählung, sondern weil wir ihn selbst gehört haben. Jetzt wissen wir: Er ist wirklich der Retter der Welt.«
【Α ✴ Ω】
Wie fühlt es sich an, wenn Jesus vor einem steht?
Der einen sieht und kennt.
Der keine Unterschiede macht.
Der, der einen liebt, wie man ist. Absolut bedingungslos.
Wie ist der Moment, in dem Er sich als der Christus offenbart?